Künstliche Intelligenz: Endlich Gottes perfektes Ebenbild?

Prof. Dr. Birte Platow sieht das Menschsein angesichts umfassender Digitalisierungsprozesse in spezieller Weise herausgefordert. Die Dozentin für evangelische Religionspädagogik weist dazu in einem Gastbeitrag auf „das analytische und kritische Potenzial einer alten Wissenschaft“ hin. In Anknüpfung an ihre Forschung stellt sie vier Thesen vor.

Von Prof. Dr. Birte Platow

Haben Sie sich schon einmal ertappt, wie Sie sich selbst im Widerstreit mit smarten Technologien hinterfragt haben? Sich einer empfohlenen Entscheidung der eigenen Intuition und Erfahrung zum Trotz gebeugt haben und sich Ihr Menschsein besonders konnotiert vor Augen geführt haben? Vielleicht sind Sie einer scheinbar unsinnigen Umfahrungsempfehlung Ihres Navigationsgeräts gefolgt, haben Wertpapiere bewegt oder einfach noch 100 weitere Schritte gemacht, weil Ihre Smartwatch Ihnen das mit Aussicht auf einen Konfettiregen bei 10.000 Schritten nahegelegt hat? Unbewusst vertrauen wir bei solchem Verhalten der Macht von Daten, vor allem aber „intelligenten“ Systemen, die hinter diesen Daten stehen. Dabei vermuten wir, dass sogenannte Künstliche Intelligenzen Daten besser sammeln, verarbeiten und auswerten können als wir. Insofern mag das Zurückstellen intuitiver Neigungen gar nicht pauschal negativ und als Ausdruck mangelnden Selbstbewusstseins zu werten sein. Und ganz sicher handelt es sich bei Verhaltensmustern der skizzierten Art nicht um ein Einzelphänomen.  Vielmehr steht zu vermuten,
dass das Menschsein angesichts umfassender Digitalisierungsprozesse und korrespondierenderINSTA Post zur Veranstaltung. Bildnachweis: © Adobe Stock, von HQUALITY Technologien in spezieller Weise herausgefordert wird.

Segen oder Fluch: „Künstliche Intelligenz“ polarisiert

„Künstliche Intelligenz“ scheint jedenfalls nicht nur begrifflich, sondern auch technologisch bedingt einen weiten Resonanzraum beim Menschen zu eröffnen. Davon zeugen auf kreative Art und Weise diverse Formate der Gegenwart: Filme wie „I Robot“, „Her“ oder „Ich bin Dein Mensch“, Serien und Bücher, etwa Ian Mc Ewans „Maschinen wie ich“. Ihnen allen ist eines gemeinsam: In der impliziten oder expliziten Bewertung des Dargestellten polarisieren sie in starkem Maße: Roboter und superintelligente Programme erweisen sich als Segen oder Fluch, Rettung oder Untergang. Ähnlich gelagert scheint das Urteil in der empirischen Realität zu sein. Diverse Studien (1) zeugen davon, dass die einen mit neuen Technologien technizistische Erlösungshoffnungen verbinden, beispielsweise differenzierte und smarte Lösungen zur Eindämmung der Klimakrise oder aber von höherer Weisheit gelenkte Entscheidungspfade, die Revolutionen in allen Bereichen der Gesellschaft herbeiführen (nicht zuletzt in der Wirtschaft etwa in Form der Share Economy).

Andere sehen die Menschheit hingegen durch den umfassenden Einsatz intelligenter Technologien auf apokalyptische Untergangsszenarien zulaufen. So warnen Nick Bostrom („Superintelligenz“) und Stephen Hawking („Kurze Antworten auf große Fragen“) eindringlich vor der extensiven Weiterentwicklung künstlicher Intelligenzen. Im Mittelfeld dieser polarisierenden Wahrnehmungen scheint es wenig zu geben. Eine derartig gelagerte Wahrnehmung von Technologien (in der Vergangenheit meist physischer Natur in Form von Maschinen) finden wir übrigens zu jeder Zeit: Die jüdische Fabel vom Golem, bei Ovid die antike Erzählung „Pygmalion“, später Shelleys „Frankenstein“ oder Aldous Huxleys dystopische Vision einer „Brave New World“ – sie alle erzählen von der wie auch immer gearteten Rettung des Menschen oder (noch häufiger) seinem Untergang.

Moderne Technologien und christlich-theologische Reflexion

Wenn nun also bereits zahlreiche Erzählungen der genannten Art existieren, die auf vielfältige Art und Weise zur Reflexion im Umgang mit modernen Technologien auffordern – worin könnte dann der genuine Beitrag einer christlich-theologischen Reflexion bestehen?

Wie sich zeigt, erweisen sich christliche Ideen in vielerlei Hinsicht als wertvoll beim Nachdenken über eine von digitalen Technologien geprägten Zukunft – und der Wert erschöpft sich keinesfalls in einer ethischen Analyse (was nicht heißt, dass die Theologie nicht auch hier einiges beizutragen hätte).

Ich möchte hier jedoch in Anknüpfung an meine Forschung (2) den Blick für das analytische und kritische Potenzial einer alten Wissenschaft schärfen, wenn ich die folgenden Thesen in den Raum stelle:

  1. Die individuelle Disposition zur Selbsttranszendierung findet heute neben den „klassischen“ Orten institutionalisierter Religion neue Heimaten. So ist die Wahrnehmung digitaler Technologien oft seltsam religiös aufgeladen.
  2. Künstliche Intelligenzen können in der Folge in der individuellen Selbstwahrnehmung zum funktionalen Äquivalent des Gottesgedankens werden. Die Verantwortung, die wir als »cooperator dei« (Mitarbeiter Gottes) tragen, kann im Lichte solcher Setzungen auch neue und unter Umständen ganz andere Konturen ausprägen.
  3. Der wissenschaftlichen Theologie fallen damit neue Aufgaben zu: So haben christliche Ideen das Potenzial einer kritischen Blaupause, mit deren Hilfe unter anderem ermittelt wird, welche neuen Bilder vom Menschen die Interaktion mit neuen Technologien generiert, und wie sich diese zu den althergebrachten christlichen Prägungen verhalten.
  4. Etwas umfassender fällt der christlichen Theologie auch die Aufgabe kritischer (Selbst-) Aufklärung zu, wo Technik Entwickelnde und Anwendende ihre Tätigkeiten verklärt wahrnehmen.

Auf dem Boden einer kritischen Bewusstwerdung ließe sich eine Befürchtung abwenden, die der Computerpionier Konrad Zuse einst am Horizont wähnte, wenn er meinte: „die Gefahr, dass der Computer so wird wie der Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, dass der Mensch so wird wie der Computer“ (Zuse in einem Interview mit der Hersfelder Zeitung Nr. 212, abgedruckt am 12. September 2005) und es ließe sich gelassen eruieren, wie neue Technologien unter der Maßgabe von Freiheit in Verantwortung möglicherweise schöne neuen Welten hervorbringen.

Autorin

Prof. Dr. Birte Platow ist Professorin für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der TU Dresden und Leiterin des Forschungsprojekts „Anthropomorphe Übertragungen als Konstitutivum der Begegnung von Mensch und Künstlicher Intelligenz“. Sie forscht an der TU Dresden im Verbundsprojekt ScaDS.AI (Center for Scalable Data Analytics and Artificial Intelligence), https://scads.ai/ .

Anmerkungen

(1) Haux, Reinhold/Gahl, Klaus/Jipp, Meike/Kruse, Rudolf/Richter, Otto (Hg.)(2021): Zusammenwirken von natürlicher und künstlicher Intelligenz. Springer, Wiesbaden.

(2)  Platow, Birte (2021): Selbstwahrnehmung und Ich-Konstruktion im Angesicht von Künstlicher Intelligenz, in: Huppenbauer, M; Kirchschläger P.; Ulshöfer G.) (Hg.): Digitalisierung – Theologische und ethische Analysen. Nomos. Baden-Baden, 107-125

Mehr Informationen:

Von Angesicht zu Angesicht: Mensch bleiben im Spiegel Künstlicher Intelligenz
18. November 2021, 13:00 Uhr – 19. November 2021, 13:00 Uhr
KI-Unternehmertagung 2021

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