Ulrich Lilie: Von der Loyalitätsrichtlinie zu einer „Profilrichtlinie“ – ein Reisebericht

Zum Stand des kirchlichen Arbeitsrechts

Die Regelungen für die Beschäftigung in Kirche und Diakonie haben in der praktischen Umsetzung nicht nur den Erfordernissen der evangelischen Einrichtungen Stand zu halten, sondern auch der Überprüfung durch staatliche Gerichte. Darauf verweist Diakonie-Präsident Ulrich Lilie in einem Gastbeitrag. Aufgrund aktueller Entwicklungen arbeitet eine Kommission jetzt an einer neuen Richtlinie.

Von Diakonie-Präsident Ulrich Lilie

Wir leben in einer Zeit epochaler Umbrüche. Globalisierung, Digitalisierung, Dekarbonisierung – das sind große Herausforderungen an eine Gesellschaft, die zugleich älter, bunter und vielfältiger wird und in der die Schere zwischen arm und reich weiter aufgeht. In diesen Umbrüchen, in denen es Gewinner und Verlierer gibt und weiter geben wird, sind Kirche und Diakonie mittendrin, wollen sie ihrem christlichen Auftrag gerecht werden, mit und unter den Menschen zu sein.

Doch der Wandel betrifft Kirche und Diakonie nicht nur in ihrem Dienst für den Menschen. Als Institutionen sind sie selbst betroffen: Wie bleiben sie mit ihrem evangelischen Profil erkennbar in der immer diverseren Welt? In einer Welt, in der die Zahlen der eingeschriebenen Kirchenmitglieder sinken und ihr Platz im politischen Diskurs nicht mehr gesetzt ist, sondern immer wieder neu errungen und erstritten werden muss.

Das Personal muss diverser werden

Für die Arbeit von Kirche und Diakonie, die wie kaum eine andere getragen wird durch die darin tätigen Menschen, muss auch das Personal diverser werden, damit sich die Organisation nicht gegenüber allem Neuen und Anderen abschottet. Längst arbeiten in den Reihen von Kirche und Diakonie Menschen anderen Glaubens, anderer Religion oder auch ohne Konfession. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird dies bald nicht mehr die Ausnahme sein, sondern an manchen Orten für eine Mehrzahl von Beschäftigungsverhältnissen gelten.

Darauf haben wir reagiert, in dem wir bereits 2017 die sogenannte Loyalitätsrichtlinie angepasst haben. Darin ist nun festgeschrieben, für welche Stellen eine Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche weiterhin zwingend erforderlich ist – nämlich für die Aufgaben von Verkündigung, Seelsorge und Religionsunterricht. Auf Leitungsposten erwarten wir die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche – und haben beispielsweise auch viele Führungskräfte katholischer Konfession in unseren diakonischen Einrichtungen. Darüber hinaus gibt es Stellen, in denen nach der Richtlinie auf eine Kirchenmitgliedschaft verzichtet werden kann.

Beratungen einer gemeinsamen Kommission

Diese Regelungen müssen in der praktischen Umsetzung nicht nur den Erfordernissen unserer evangelischen Einrichtungen Stand halten, sondern auch der Überprüfung durch staatliche Gerichte. Rechtsstaatlichkeit und der Schutz vor Diskriminierung sind Werte, die für Kirche und Diakonie im demokratischen Gemeinwesen schlechterdings konstitutionell sind. Daher hat es in der vergangenen Zeit mehrere gerichtliche Prozesse gegeben, die klären sollen, welche Anforderungen an Kirchenmitgliedschaft in einem Bewerbungsverfahren gestellt werden können.

Im wohl bekanntesten Verfahren, das auf evangelischer Seite geführt wird, dem Fall Egenberger ./. EWDE, hat die Diakonie Deutschland jetzt das Bundesverfassungsgericht um die Prüfung vorausgegangener Entscheidungen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und das Bundesarbeitsgericht gebeten. Grundsätzlich, so die Luxemburger und Erfurter Richter, könnten Kirche und Diakonie die Kirchenmitgliedschaft erwarten, wenn dies bei der zu besetzenden Stelle für das Ethos der Organisation entscheidend sei.

An dieser Frage, die sich im Lichte dieser Urteile neu stellt, arbeiten nun in einer gemeinsamen Kommission Theologen und Kirchenjuristen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Landeskirchen, aus der Diakonie Deutschland, Landes- und Fachverbänden sowie diakonischen Unternehmen. Denn die Frage nach dem Ethos und Selbstverständnis ist komplex, sie lässt sich weder von Theologen oder Juristen allein, sondern nur interdisziplinär beantworten. Die Beratungen sind noch im Gange, aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass die bisherige sogenannte Loyalitätsrichtlinie in Richtung einer Profilrichtlinie weiterentwickelt werden sollte. Allerdings wird nach der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht über die durch das EWDE eingelegte Verfassungsbeschwerde noch einmal eine abschließende Bewertung dieser Überlegungen vorgenommen werden müssen.

Geprägt von ethischer und religiöser Überzeugung

Die Überlegungen gehen von dem Grundsatz aus, dass in Kirche und Diakonie die vier Grundvollzüge von Leiturgia (Gottesdienst), Diakonia (Dienst), Martyria (Zeugnis) und Koinonia (Gemeinschaft) zusammenwirken als Gottes Dienst – und damit als Gottesdienst – in der Welt. Kirche und Diakonie sind dabei in funktional ausdifferenzierten Handlungsfeldern und sozialen Systemen unterwegs. Ihre Tätigkeit in diesen Systemen bleibt von ethischer und religiöser Überzeugung geprägt – und das macht sie unterscheidbar von anderen Organisationen etwa in der Zivilgesellschaft oder Sozialwirtschaft.

Die Erwartung an Kirchenmitglieder ist, dass sie in immer säkularer und multireligiöseren Umfeldern ansprechbar auf ihren Glauben sind. Und dass sie erklären können, warum sie aus christlicher Motivation heraus handeln. Wäre dies in einem kirchlichen oder diakonischen Haus nicht mehr gegeben, wäre Diakonie nicht mehr unterscheidbar von anderen säkularen Anbietern.

Das Regel-Ausnahme-Prinzip reicht nicht mehr

Was bedeutet das nun für eine neue Richtlinie, die den Rahmen der Anforderung an Kirchenmitgliedschaft regeln soll?

Zum einen heißt es, dass wir mit dem bisherigen Regel-Ausnahme-Prinzip nicht mehr weiter kommen, nach der grundsätzlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Kirche und Diakonie auch Mitglieder der Kirche sein müssen und nur in Ausnahmefällen nicht. Dazu verändert sich die Gesellschaft zu schnell. Und es sind in immer diverseren Umfeldern auch bei Kirche und Diakonie Teams nötig, die Diversität nicht nur kennen, sondern auch leben.

Zweitens wird es auch künftig nicht ausreichen, die Frage der Kirchenmitgliedschafts-Anforderung nur nach Hierarchien zu staffeln. Denn eine reformatorische Erkenntnis ist die Priesterschaft aller Gläubigen – und das evangelische Ethos kann und soll von allen in eine Einrichtung eingebracht werden: sei es die Chefärztin, der Bischof oder eine Reinigungskraft.

Drittens heißt es aber, dass wir künftig von Organisationseinheit zu Organisationseinheit beschreiben müssen, was das evangelische Ethos ausmacht. In welchem Kontext arbeitet die Person, die eingestellt werden soll? Dass Verkündigung und Seelsorge weiterhin die Zugehörigkeit zur Kirche erfordern, ist dabei unstrittig. Aber auch in einer diakonischen Pflegeeinrichtung kann es nötig sein, dass dort, wo beispielsweise schon acht Mitarbeitende arbeiten, die nicht der Kirche angehören, die zwei weiteren evangelisch sind, um evangelisches Profil sicherzustellen und auskunftsfähig zu sein, über das, was unser Tun trägt.

Nicht schematisch und pauschal

Die vorgetragenen Überlegungen sollen in eine künftige Profilrichtlinie einfließen. Im Verwaltungsalltag muss die Richtlinie ermöglichen, dass auch Nicht-Theologen und Nicht-Juristen die offenen Fragen zum Ethos nachvollziehbar klären können. Dies kann aber nicht mehr schematisch und pauschal geschehen. Der Handlungsrahmen der Einrichtung, aber auch der Arbeitsplatz müssen anhand dieser Hilfe im jeweiligen Kontext individuell beschrieben werden. Dazu soll ein Rahmenhandbuch helfen, das die Diakonie in Abstimmung mit dem Kirchenamt erstellen wird.

Für alle, die mit diesen Fragen zu tun haben, bedeutet das ein Umlernen und zumindest in der Anfangsphase mehr Arbeit. Die Regelung bietet aber die Gewähr dafür, dass wir auch in der diverser und säkularer werdenden Gesellschaft rechtssicher klären können, worin das Ethos unserer Arbeit im Ganzen und einer konkreten Tätigkeit im Einzelnen besteht. Wir sind auf dem Weg von der Loyalitätsrichtlinie zu einer „Profilrichtlinie“.

Zum Autor

Autor Ulrich Lilie ist seit 2014 Präsident der Diakonie Deutschland und seit 2017 Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung. Der Theologe war von 2007 bis 2011 Superintendent des Kirchenkreises Düsseldorf und übernahm 2011 die Aufgaben eines Theologischen Vorstandes der Graf-Recke-Stiftung in der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens.