Neue Impulse durch Sozialgenossenschaften

Das Genossenschaftswesen erlebt seit mehr als zehn Jahren einen Aufschwung. Kirche und Diakonie sollten sich an dieser Entwicklung stärker beteiligen, meint Genossenschaftsexperte Dr. Burghard Flieger.

Genossenschaftsexperte Dr. Burghard Flieger

Kirche und Genossenschaft – passt das zusammen?

Eigentlich extrem gut. Früher haben sich christliche Zusammenschlüsse auch explizit als Genossenschaft bezeichnet, wie sich etwa am Namen der Genossenschaft der barmherzigen Schwestern ablesen lässt, die es an vielen Orten gibt. Der Verweis auf eine Genossenschaft sollte zum Ausdruck bringen, dass sich die Gemeinschaft in Solidarität engagiert. Es handelt sich um keine eingetragenen Genossenschaften, wie sie heute in Handelsregistern geführt werden. Allerdings spielt die Rechtsform für meine Definition von Genossenschaften auch keine Rolle.

Was zeichnet Genossenschaften aus?

Vier Prinzipien sind entscheidend. Erstens, das Förderprinzip: Eine Genossenschaft wird für einen bestimmten Nutzen der Mitglieder gegründet, der wirtschaftlich sein kann, aber nicht muss; der Nutzen kann im preisgünstigen Wohnen ebenso wie in der Versorgung mit ökologischen Lebensmitteln bestehen. Das zweite Prinzip lautet: ein Mensch, eine Stimme. Jedes Mitglied hat demnach nur eine Stimme bei Entscheidungen der Genossenschaft, unabhängig vom investierten Geld. Drittens greift das Identitätsprinzip, indem einem Genossenschaftler oder einer Genossenschaftlerin mindestens zwei Herzen in der Brust schlagen. Als Eigner der Genossenschaft hat daher ein Interesse daran, dass sich deren Vermögen erhöht. Zudem ist er Nutzer von Leistungen. Bei einer Wohnungsbaugenossenschaft ist ein Mitglied beispielsweise gleichzeitig Mieter, Mieterin und Vermieter,Vermieterin, bei einer Produktivgenossenschaft Arbeitgeberin, Arbeitgeber und Arbeitnehmerin, Arbeitnehmer. Viertens kommt bei Genossenschaften das Solidaritätsprinzip zum Tragen. Das bedeutet unter anderem, dass ein Mitglied nicht am inneren Wert eines Unternehmens beteiligt ist. Wer aus einer Genossenschaft austritt, erhält nur den Geldbetrag zurück, den er eingezahlt hat. Eine Werterhöhung stärkt die Genossenschaft und die Gesamtheit ihrer Mitglieder.

Engagieren sich Kirche und Diakonie aktuell im Genossenschaftswesen?

Aus meiner Sicht viel zu wenig, auch wenn einzelne Personen sehr aktiv sind. Das liegt vor allem daran, dass es den Kirchen schwerfällt, bei wirtschaftlichen Fragen Einfluss zu teilen. Gleichberechtigte Beteiligung des Einzelnen praktizieren sie nur ungern, gerade wenn es um Wirtschaft, Vermögen und Geld geht. Bei den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden ist das ähnlich: Selbsthilfe in Vereinen zu organisieren, finden sie super. Aber sobald Geld und Wirtschaften im Spiel ist, werden gemeinnützige Gesellschaften mit beschränkter Haftung gegründet, bei denen die Kirche und Diakonie die Kapitalmehrheit und somit das Sagen haben.

Im Jahr 2006 wurde ein neues Genossenschaftsgesetz verabschiedet. Danach gab einen Gründungsboom bei Genossenschaften. Was sind die Gründe?

Oft heißt es, der Boom sei auf das Genossenschaftsgesetz zuzuführen. Allerdings sind die Neuerungen durch das Gesetz kaum nennenswert. Das Einzige, was begrenzt zum Tragen kommt: Seit 2006 können auch soziale und kulturelle Förderungen den Zweck einer Genossenschaft bilden. Zuvor waren Genossenschaften per Gesetz allein für die wirtschaftliche Förderung ihrer Mitglieder zuständig. Für den Boom bei den Genossenschaften nach 2006 war viel entscheidender, dass im gleichen Jahr die sogenannte Prospektpflicht bei der Finanzierung von Projekten durch mehr als 20 Personen eingeführt wurde. Genossenschaften sind von dieser Pflicht ausgenommen. Bürgerbeteiligungsprojekte, die über Genossenschaften finanziert werden, bleiben wegen der regelmäßigen Prüfungen durch die Genossenschaftsverbände davon befreit – deshalb wurden sehr viele neue Energiegenossenschaften zur Finanzierung und zum Betrieb von Photovoltaikanlagen gegründet, die hauptsächlich für den Gründungsboom verantwortlich waren. Mittlerweile ist der Boom wieder zum Erliegen gekommen, bedingt durch das novellierte Erneuerbare-Energien-Gesetz des Jahres 2012. Aber immerhin haben Genossenschaften so seit 2006 eine generelle Aufwertung erfahren. Das hat zu Neugründungen in weiteren Branchen geführt.

Für welche Vorhaben sind Genossenschaften als Organisationsform besonders geeignet?

Das zeigt ein Blick auf andere Rechtsformen: Der Verein ist nicht legitim für wirtschaftliche Zwecke; bei der GmbH ist der Ein- und Ausstieg aufwendig, unter anderem notariell zu beglaubigen. Bei der Aktiengesellschaft gibt es keine Gleichberechtigung. Hier bestimmt wie bei der GmbH, wer die meisten Anteile hat. Eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts wiederum ist nicht haftungsbegrenzt. Wer aber mit vielen Menschen gleichberechtigt wirtschaftlich tätig sein will, die Haftung begrenzen möchte und einen unkompliziertem Ein- und Ausstieg für Mitglieder wünscht, für den ist die Genossenschaft als Rechtsform eigentlich unschlagbar.

In welchen Branchen finden sich Ansätze von Kirche und Diakonie im Genossenschaftswesen, die sich bewährt haben?

Teilweise bei den Arbeitslosengenossenschaften, etwa im baden-württembergischen Kirchzarten mit der Genossenschaft Haus & Garten eG oder in Braunschweig mit der Genossenschaft WIR eG. Außerdem sind einige Sozialkaufhäuser als Genossenschaft organisiert, und in Hannover war die Diakonie an der Gründung eines solchen Kaufhauses beteiligt. Ansätze finden sich auch bei Energiegenossenschaften – allerdings viel zu selten. Ein positives Beispiel ist hier die Ökumenische Energiegenossenschaft mit Sitz in Bad Boll.

In welchen Branchen sehen Sie Perspektiven für Kirche und Diakonie im Genossenschaftswesen?

Vor allem bei den Sozialgenossenschaften, die Hilfe zur Selbsthilfe im sozialen Sektor organisieren, etwa in der Quartiersentwicklung. Dieser Bereich gewinnt zunehmend an Bedeutung. Genossenschaften können hier neue Impulse setzen, indem sie Strukturen für Menschen schaffen: bei der nachbarschaftlichen Hilfe, in der Pflege oder Kinderbetreuung. Da gilt es, Vertrauen vor Ort gemeinschaftlich zu organisieren. Das stellt eine wichtige Zukunftsaufgabe dar, die kompatibel ist mit den Anliegen von Kirche und Diakonie.

Genossenschaftsexperte Dr. Burghard Flieger

Zur Person

Dr. Burghard Flieger, geboren 1952 in Wuppertal, ist Vorstand und wissenschaftlicher Leiter der Genossenschaft „innova“ mit Sitz in Leipzig, die Genossenschaften bei Neugründungen berät. Der Diplom-Volkswirt und Soziologe ist Autor mehrerer Bücher zum Genossenschaftswesen und lehrt als Dozent an der Hochschule in München im Rahmen eines Masterstudiengangs für Gemeinwesenentwicklung. Burghard Flieger war Referent beim Evangelischen Raiffeisenkongress 2018 in Bonn und sprach über „Die Rolle der Genossenschaften in der Quartiersentwicklung“ und „Genossenschaftliche Alternativökonomien“.

„Teilhabe und Teilnahme – Zukunftspotenziale der Genossenschaftsidee“ – unter diesem Titel stand der Evangelische Raiffeisenkongress anlässlich des 200. Geburtstags des Genossenschaftsgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 bis 1888). Dazu hatten die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Akademie im Rheinland, das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD, das Seminar für Genossenschaftswesen der Universität Köln und die Stiftung Sozialer Protestantismus eingeladen. Der Kongress fand am 18. und 19. Juni 2018 in Bonn statt.